- Baudelaire und der Symbolismus
- Baudelaire und der SymbolismusZwei literarische Prozesse, die die Zensurbehörde wegen der Verletzung der öffentlichen Moral anstrengte, erregten 1857 die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Frankreich und machte die Autoren über Nacht bekannt. Es war jedoch nicht Flauberts Ehebruchsroman »Madame Bovary«, sondern Baudelaires Gedichtsammlung »Die Blumen des Bösen«, die im Namen eines »die Scham verletzenden Realismus« verurteilt wurde. Der Dichter war vor allem schockiert über den Vorwurf des Realismus, der von einem tiefen Unverständnis gegenüber seiner in zahlreichen Schriften zu Literatur, Malerei und Musik entworfenen Ästhetik zeugte und der das von ihm kultivierte und zugleich gefürchtete Bild des unverstandenen und von der Gesellschaft verstoßenen Dichters bestätigte. Obwohl Baudelaire zeitweilig in den Kreisen der Realisten verkehrt hatte, konnte er sich mit ihrer Literaturvorstellung nicht anfreunden. Denn für ihn kann die Poesie ihren Zweck nur in sich selbst haben und darf weder belehrend noch nutzbringend sein wollen. Sie entsteht nach seiner Ästhetik aus der unstillbaren Sehnsucht nach dem Unendlichen, die den Dichter nach einer höheren Schönheit streben lässt. Das Schöne aber ist für Baudelaire keine abstrakte ästhetische Kategorie, die einem ewig gültigen Ideal entspricht und in den Gegenständen oder der Natur selbst liegt, sondern ist abhängig von der subjektiven Wahrnehmung des Betrachters. Schönheit erklärt er als das Zusammenwirken eines unveränderbaren, objektiv erkennbaren Elements, das er als banal und langweilig einstuft, und des Moments des Unregelmäßigen, Überraschenden und Bizarren, das Erstaunen auslöst. Aus diesen Überlegungen leitet er seine Theorie der Modernität ab, die den Begriff herauslöst aus aktuellen Zeitbezügen und in ihm ein in jeder Epoche zu beobachtendes Phänomen erkennt: »Modernität«, schreibt er in dem Essay »Le peintre de la vie moderne«, »ist das Vorübergehende, Flüchtige, Zufällige, die Hälfte der Kunst, deren andere das Ewige und Unveränderbare ist«. Die Spannung, die zwischen den beiden Elementen seiner Vorstellung von Schönheit entsteht, bedingt die Neuheit einer Ästhetik, die sich nicht auf die Suche nach einem Ideal beschränkt, sondern das Böse, Hässliche, Abnorme integriert und es künstlerisch verwandelt. Erst die Kraft der Imagination des Dichters vermag sie als Zeichen oder Symbole einer dem rationalen Bewusstsein nicht zugänglichen Ebene des Seins zu entziffern. Die Fähigkeit, den inneren Zusammenhang der gegenständlichen Welt wahrzunehmen und sie auf eine andere Ebene der Wirklichkeit zu übertragen, zeigt Baudelaire zum Beispiel in dem Gedicht »Zusammenklänge«. Hier wird die Synästhesie des Symbolismus, die Analogie verschiedener Sinneseindrücke, erstmals prägnant formuliert. In Richard Wagner sieht er den kongenialen Musiker, in dessen Entwurf des musikalischen Dramas als Gesamtkunstwerk er seine eigenen ästhetischen Prinzipien wieder findet.Die symbolistischen Dichter, die Baudelaire als einen ihrer Vorläufer betrachteten, haben die strenge und regelkonforme Struktur der »Blumen des Bösen« als Zurückweichen vor der Kühnheit des eigenen ästhetischen Anspruchs interpretiert. Dass er gerade den Gegensatz zwischen makelloser Form und schockierendem Inhalt nutzte, um das Unerwartete, das ein wesentliches Element seiner Ästhetik ist, zu betonen, hat erst die neuere Literaturkritik hervorgehoben. Für seine Nachfolger war die Auflösung der festen poetischen Formen ein so bedeutendes Mittel zur Erneuerung der Lyrik, dass ihnen dieser Aspekt verborgen blieb. Vor allem für Verlaine wurde der freiere Umgang mit poetischen Normen zur Voraussetzung einer Dichtung, in der die Musikalität der Sprache und ihre Fähigkeit, Stimmungen zu suggerieren, zum höchsten ästhetischen Prinzip wurde. In einem Gedicht aus der Sammlung »Einst und Jetzt« verurteilt er Reimzwänge und kalte Beredsamkeit beschwört den Reiz des Unbestimmten und Vagen: »Von der Musik vor allen Dingen« heißt es hier. Auch er verzichtet nicht völlig auf den gebundenen Vers, aber der zwanglose Umgang mit den Regeln der Poetik lässt die Melodie der Sprache klingen, die den inneren Regungen der Seele zu folgen scheint. Zahlreiche Musiker, wie Debussy, Fauré und Ravel, vertonten seine Gedichte, die, wie der Titel »Lieder ohne Worte« andeutet, selbst schon Musik sein sollte.Die existenzielle Dimension der Suche Baudelaires nach den Entsprechungen zwischen der sichtbaren Welt und dem Unendlichen konnte Verlaine mit seiner Dichtung nicht erreichen. Für sie war Arthur Rimbaud empfänglicher - der Dichter der jugendlichen Revolte gegen ein von Nützlichkeit und Vernunft geprägtes Leben, bei dem das Leiden an der Welt erstmals umschlägt in Hass und intellektuelle Provokation. In den »Seher-Briefen« entwirft er das Bild des Dichters als Seher, der die Grenzen des subjektiven Empfindens überschreitet und in den Abgründen seines Ich Schichten der kollektiven Erfahrung entdeckt, die das rationale Denken verdrängen. In einem bewussten Akt der »Entregelung aller Sinne«, die durch Drogeneinnahme, Ausschweifungen und Wahnvorstellungen herbeigeführt werden soll, versucht er in eine unfassbare Ebene des Seins einzudringen, die Rimbaud in den halluzinatorischen Traumbildern des Gedichts »Das trunkene Schiff« evoziert.Stéphane Mallarmé verzehrte sich sein Leben lang im übermenschlichen Ringen um das unerreichbare Absolute, dem er das Geheimnis des Universums und seiner eigenen Existenz zu entreißen versucht. Er will die Bindung des Subjekts an alle persönlichen Erfahrungen und des Wortes an die gegenständliche Welt aufheben, um nur noch das Wesen der Dinge und die verborgenen Beziehungen des Unendlichen aufscheinen zu lassen: »Ich sage: eine Blume! und aus dem Vergessen. .. steigt musikalisch, Idee selbst und voller Süsse, die in allen Sträussen abwesende auf.« Ein Gedicht, das diesem Anspruch genügt, wäre ein schweigendes Gedicht, eine weiße Seite. Im Ringen um diese Paradoxie fand Mallarmé zu einer poetischen Sprache, die nicht mehr mitteilen will, sondern eine Grenzerfahrung suggerieren soll, die er in Begriffen wie »Absenz«, »Leere«, »Weiß« symbolisch erfasst. Bis zu seinem Tode arbeitete er an dem absoluten Buch, das den Sinn der Welt vollständig erfassen und eine Synthese aller möglichen Bücher sein sollte, in der jeder Wirklichkeitsbezug aufgelöst ist. Eine Annäherung an dieses Ideal legte er vor mit dem Werk »Ein Würfelwurf hebt den Zufall nicht auf«. Es ist auch eine Einsicht in das Scheitern seines Anspruchs, denn die dingliche Existenz, die er mit Zufall gleichsetzt, kann nicht außer Kraft gesetzt werden.»Evokation« und »Suggestion« wurden zu Schlüsselbegriffen einer Ästhetik, die die geheimnisvollen Beziehungen zwischen Seelenzuständen und äußeren Gegebenheiten aufdecken wollte. In zahlreichen Gruppen, Zirkeln und kurzlebigen Zeitschriften wurden die Vorstellungen diskutiert, die Jean Moréas 1886 in seinem »Manifest des Symbolismus« zu bündeln versuchte und denen er mit dem Namen auch den Anschein einer einheitlichen Richtung gab. Trotz seiner verwirrenden Vieldeutigkeit und unklaren Charakterisierung konnte sich die Bezeichnung »Symbolismus« gegen andere konkurrierende Begriffe durchsetzen. Der geistige Mittelpunkt der Bewegung aber war nicht Moréas, sondern Mallarmé. An seinen berühmt gewordenen »Soirées de mardi« scharte er die alten und jungen Literaten seiner Zeit um sich und übte aufgrund seiner persönlichen Ausstrahlung eine ungeheuere Wirkung aus, die sich noch in der »Poésie pure« Valérys und dem christlichen Symbolismus Claudels zeigt. Den meisten seiner Anhänger entging der metaphysische Anspruch seiner Dichtung, über den er selten sprach, aber intuitiv erkannten sie Mallarmés Bedeutung als Poeten, dessen Werk krönender Abschluss einer Epoche und Aufbruch in eine neue Dimension des dichterischen Ausdrucks war.Dr. Elisabeth LangeFranzösische Literaturgeschichte, herausgegeben vonJürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.Köhler, Erich: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur, herausgegeben von Henning Krauss. Band 6: Das 19. Jahrhundert. Stuttgart 1984—87.
Universal-Lexikon. 2012.